Physiknobelpreis 1906: Joseph John Thomson

Physiknobelpreis 1906: Joseph John Thomson
Physiknobelpreis 1906: Joseph John Thomson
 
Der englische Physiker erhielt den Nobelpreis in Anerkennung der Verdienste, die er sich durch seine theoretischen und experimentellen Untersuchungen zur elektrischen Leitung durch Gase erworben hat.
 
 
Sir (seit 1908) Joseph John Thomson, * Cheetham Hill (heute zu Manchester) 18. 12. 1856, ✝ Cambridge 30. 8. 1940; 1884-1919 Nachfolger von Lord Rayleigh als Professor für Experimentalphysik am Cavendish Laboratory in Cambridge, 1915-20 Präsident der Royal Society; entdeckte das Elektron; wies die Existenz von Isotopen nach.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Ein halbes Jahrhundert ungelöste Rätsel um die Natur der Kathodenstrahlen konnte Joseph Thomson endlich aufklären. 1897 gelang es ihm nachzuweisen, dass die Kathodenstrahlen ausnegativ geladenen Teilchen bestehen. Thomson wird zudem als Entdecker des Elektrons angesehen. Dessen Nachweis gilt heute als wesentlich bedeutender als die vom Nobelkomitee ausgezeichnete Leistung.
 
 Der Weg zum Elektron war weit
 
1871 glaubte der englische Physiker Cromwell Varley, dass Kathodenstrahlen aus negativ geladenen Teilchen bestehen müssten. Zehn Jahre später waren die deutschen Physiker Gustav Wiedemann, Eugen Goldstein und Heinrich Hertz von der Wellennatur der Strahlen überzeugt. Ihre Ablenkbarkeit im Magnetfeld erschien ihnen nicht ausreichend, sie als elektrisch geladene Teilchen anzusehen. Denn auch Licht ließ sich durch ein Magnetfeld beeinflussen. Wenn Kathodenstrahlen elektrisch geladen wären, müssten sie im elektrischen Feld ablenkbar sein. Das konnten Hertz und seine Kollegen experimentell nicht bestätigen, da ihre technischen Hilfsmittel noch nicht ausgereift waren. Als Philipp Lenard (Nobelpreis 1905), ein Schüler von Hertz, zeigte, dass die Strahlen auch dünne Folien durchdrangen, schien die Wellennatur nahezu belegt.
 
Doch 1895 stellte der französische Physiker Jean Baptiste Perrin (Nobelpreis 1926) fest, dass die Strahlen eine negative Ladung trugen. Der in Manchester lebende deutsche Physiker Arthur Schuster kam der Natur der rätselhaften Strahlen bereits sehr nahe, als es ihm gelang, die spezifische Ladung je Masseneinheit grob zu schätzen. Dann erst schlug die Stunde von Joseph Thomson. Zunächst verbesserte er das Vakuum in der Kathodenstrahlröhre. Im ersten Teil seiner Untersuchungen maß er mit einem empfindlichen Bolometer die Wärmemenge und mit einem Elektroskop die elektrische Ladung, die von der unbekannten Strahlung auf die Anode transportiert wurde. Im zweiten Teil lenkte er die Strahlung durch zwei zueinander senkrecht stehende Felder — ein elektrisches und ein magnetisches, von denen jedes geladene Teilchen in die entgegengesetzte Richtung ablenkt.
 
 Die Urmaterie fand er nicht
 
Thomson konnte nachweisen, dass die Art der Teilchen in den Kathodenstrahlen weder vom Kathodenmaterial noch vom verbliebenen Restgas in der Röhre abhängt. Folglich mussten die Teilchen Bestandteil der Atome der Kathode sein. Durch genaue Messungen konnte er die spezifische Ladung der Teilchen recht genau bestimmen. Ihre Masse war um drei Größenordnungen kleiner als die des Wasserstoffatoms. Thomson schrieb dazu 1897: »In dieser Sicht haben wir in den Kathodenstrahlen einen neuen Zustand der Materie vor uns, in dem ihre Unterteilung viel weiter getrieben ist als im gewöhnlichen Gaszustand; es ist dies ein Zustand, in dem jede Materie — unabhängig davon, ob sie aus Wasserstoff, Sauerstoff oder irgendeinem anderen Stoff gewonnen wurde — ein und dieselbe ist, da es sich um die Substanz handelt, aus der alle chemischen Elemente aufgebaut sind.«
 
Er glaubte zunächst, mit dem Elektron die Urmaterie, aus der sich alle Elemente zusammensetzen, gefunden zu haben: »Ich nannte diese Teilchen zuerst Korpuskeln (kleinste atomare Teilchen), aber man nennt sie jetzt mit dem besser passenden Namen Elektronen (elektrisch negativ geladene Teilchen).« Um diese Zeit war von Urmaterie nicht mehr die Rede. Elektronen waren als normaler Bestandteil der Atome längst erkannt. Den Begriff »Elektron« hatten der Engländer George Stoney und Hermann von Helmhotz bereits 1874 für das postulierte »Atom der Elektrizität« geprägt.
 
Durch die Beobachtung der Streuung von Röntgenstrahlen an Materie kam Thomson 1898 zu der Vermutung, dass die Anzahl der Elektronen im Atom ungefähr gleich der relativen Atommasse sein müsse. Bis dahin war lediglich klar, dass das Atom aus einem positiv geladenen Teil, über den man noch kaum etwas wusste, und aus negativ geladenen Elektronen besteht. Der englische Physiker Sir William Thomson (ab 1892 Lord Kelvin of Largs) hatte 1902 mit diesem Wissen ein erstes kugelförmiges Atommodell vorgestellt. Es sollte aus einer positiven elektrischen Flüssigkeit bestehen, in die die negativen Elektronen eingebettet sind. Joseph Thomson entwickelte diesen Gedanken ein Jahr später weiter. Gestützt auf die von Helmholtz 1859 aufgestellten hydrodynamischen Wirbelsätze baute er sein »Vortex-Atommodell« auf. Er versuchte zu beweisen, dass sich die Elektronen im Atom auf Ringen um den Mittelpunkt formieren. Für jedes Element sollte eine stabile Verteilung der Elektronen existieren. Ernest Rutherford (Nobelpreis für Chemie 1908) blieb es 1911 vorbehalten, ein planetarisches Atommodell zu postulieren, das zum ersten Mal den Kern von den sie umkreisenden Elektronen trennte.
 
 ... aber die Isotopie der Elemente
 
Die Kathodenstrahlröhre war eine weitere fundamentale Entdeckung Thomsons: Mit dieser Röhre lassen sich auch positiv geladene Strahlen erzeugen. Die Elektronen, die von der Kathode zur Anode fliegen, schlagen aus den Atomen und Molekülen des in der Röhre enthaltenen verdünnten Gases Elektronen heraus. Die Teilchen werden dadurch positiv geladen und fliegen wieder zur negativen Kathode zurück. Hat nun die Kathode in der Mitte ein Loch, fliegt ein Teil davon durch sie hindurch. Sie werden deshalb Kanalstrahlen genannt, die sich genauso untersuchen lassen, wie die Elektronen des Kathodenstrahls. Thomson gelang 1907 durch Ablenkung von Kanalstrahlen im elektrischen Feld, Atom- und Molekülarten zu unterscheiden. Die experimentellen Daten lieferten einen schlüssigen Beweis, dass die Atome eines Elements nicht alle identisch sind. Während die alten Methoden zur Bestimmung der Atomgewichte nur Durchschnittswerte ergaben, entdeckte er 1912, dass ein Element durchaus aus verschiedenen Atomen bestehen könne. Der Beweis für die Isotopie der Elemente war erbracht.
 
Wie alle Physiker trieb auch ihn lebenslang die Frage nach dem Wesen der Strahlung um. Wellen und Teilchen seien zwei Aspekte der Wirklichkeit, meinte der dänische Physiker Nils Bohr (Nobelpreis 1922). Thomson hat das 1925 so ausgedrückt: Welle und Teilchen seien wie Tiger und Hai, »jedes dieser Geschöpfe erweist sich als vollkommen im eigenen Element, aber hilflos in dem des anderen«. Zu Thomsons Schülern zählen sieben Nobelpreisträger, auch sein Sohn George Paget Thomson (Nobelpreis 1937).
 
U. Schulte

Universal-Lexikon. 2012.

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